Süddeutsche Zeitung, 18. 12. 2006
Kratzen, reiben, rezitieren
Ehepaar Laar geht der Frage „Kunst oder Unfall?“ nach
‚Kunst oder Unfall?’ Das Programm des in Krailling lebenden Musikerehepaars Augusta und Kalle Laar hatte noch ein weiteres Mal Liebhaber in Jane Hochstetters Schlosscafé geholt. Wieder waren fünf Plattenspieler unterschiedlichster Größe, von irgendwoher in der Welt mitgebracht, waren Mini-Keyboards und andere digitale Akustikgeräte aufgebaut worden, dicht umringt von Plattenstapeln, Scherzartikeln mit eingebauten Lautsprechern, sprachbegabte Barbiepuppen, einer Mickymaus mit Quäkstimme und einem Plastikreh. Was dem äußeren Anschein nach an Fun und Fancy denken lässt, ist es nicht. Die Frage „Kunst oder Unfall?“ stellt sich wirklich. Sie will ebenso aus dem Gefühl heraus wie philosophisch beantwortet werden.
Die Aspekte, die hier zusammenfinden zu einer rund einstündigen akustischen Performance, sind persönlicher wie globaler Art, werden genährt aus vielerlei Erfahrungen, aber sind getragen von den engen wechselseitigen Resonanzen von zwei Menschen aufeinander. Augusta Laar, Pianistin, Musikpädagogin, Lyrikerin und Dozentin für Lyrik, aber auch Initiatorin von Kunstaktionen, etwa der weltweit beantworteten Postkarteninstallation ‚Madonna sagt...’ ist im Würmtal aufgewachsen. Kalle Laar, wie seine Frau seit Jahren auf allen Kontinenten unterwegs, stammt aus lettisch-estländischer Familie, deren spiritueller Hintergrund ihn geprägt hat. Auf ihn, Gitarrist in verschiedenen Bands, geht die Gründung des ‚Temporären Klangmuseums’ in München zurück.
„Kunst oder Unfall“ ist für beide eine Sache höchster Konzentration, eine Sache des in fast meditativer Hingabe geführten Dialogs auf einer sehr tiefen Wahrnehmungsebene. Es gibt keinerlei Konzept, es gibt keine Blicke der gegenseitigen Abstimmung. In einem Ernst der fast einer heiligen Handlung gleich kommt, baut sich aus den akustischen Versatzstücken einer riesig breiten Skala von klassischer Unterhaltungs-, Pop- und Folkloremusik, aus Geräuschen aus der Natur bis zu nervendem und sogar ängstigendem Kriegsgelärme eine singuläre, nicht wiederholbare Komposition auf. Während Kalle auf Singles, oft verbogen und verkratzt, also durch Unfall traumatisiert, wie auch auf seinen elektronischen Geräten kratzt, reibt, rappt und Tasten anschlägt, rezitiert Augusta immer wieder einmal eins ihrer Gedichte ins Mikrophon, erzählt mit unbewegter Stimme von Schneeglöckchen, die sich die Adern aufschlitzen, klagt „Es war so schön und keiner war da“ oder versichert den Zuhörern, die still und mit geschlossenen Augen dasitzen, „Schwarz gibt nicht auf. Das Böse muss weg..." Sie lässt, während sie selbst ebenfalls abenteuerliche, irgendwo entdeckte, kostbare und seltene Singles auflegt, die Barbiepuppen miteinander ins Gespräch kommen und verschafft der Mickymaus ein letztes Wort und den Abgang über Töne einer Spieluhr. Dann kehren alle zurück in die Realität des Schlosscafés in Gauting und regen die Hände zum Applaus. Der hört sich dumpf, fremd und seltsam an nach dieser Stunde.
Ingrid Zimmermann